"Die Situation macht sprachlos"
  12.03.2022


Saskia Peuke und Jan Gutzeit erzählen, wie sie die Atmosphäre in Polen wahrgenommen haben.

Saskia Peuke und Jan Gutzeit fuhren am 10.03.2022 den Bus mit den zahlreichen NLV-Sachspenden nach Posen, der Hauptstadt des westpolnischen Bundeslandes Großpolen. Wie die Beiden die Situation vor Ort und die Menschen erlebt und wahrgenommen haben, schildern sie in einem persönlichen Bericht mit ihren Gedanken:

 

Jan Gutzeit

Inmitten einer riesigen Messehalle stehend erblicke ich neben den zahlreichen Kleiderspenden einen Eingang zur Halle, an dem dicht an dicht eine immense Menschenmasse ansteht, um sich mit Kleidung einzudecken. Mir schießen direkt die unfassbaren Bilder aus den Nachrichten in den Kopf. Ich möchte es eigentlich nicht wahrhaben, aber es ist Realität, was ich sehe. Ukrainische Flüchtlinge, die sich bis Posen durchgekämpft haben, stehen an, um sich unter anderem gegen die drückende Kälte einzudecken. Während ich in die gezeichneten und verzweifelten Gesichter der hilflosen Ukrainer schaue, laufen nach und nach Tränen über meine Wangen. Saskia und ich schauen uns an – wir bekommen kein Wort heraus. Es gibt wohl keine passendere Beschreibung des aktuellen Weltgeschehens als Sprachlosigkeit.

Was jene Sprachlosigkeit derzeit ein wenig auflockert, ist die unvorstellbare Solidarität gegenüber den Geflüchteten. Wir werden an der Messehalle direkt von mehreren Helfern in gelben Westen herzlich empfangen, bevor tatkräftig angepackt wird, unsere Spenden auszuladen und in der riesigen Halle an den dafür zugewiesenen Bereichen abzustellen. Dort warten bereits erneut zahlreiche Helfer, um die Kisten auszupacken und den Inhalt auszulegen. Mehrere Male bleibe ich schlicht inmitten der Halle auf der Stelle stehen, weil ich dermaßen beeindruckt von der Effizienz und der Hingabe der helfenden Menschen bin. Es ist eine bedingungslose Hilfe. Was ich spüre, das ist pure Menschlichkeit. Obwohl die Luft in der Messehalle durchaus kühl ist, so ist es die Hilfsbereitschaft und der Einsatz der Menschen, die mir eine durchgehende Gänsehaut während des Ausladens der Spenden verleihen.

Währenddessen komme ich mit einem Helfer ins Gespräch. Zur einfacheren Lesbarkeit gebe ich ihm im Folgenden den Namen Tomasz. Er berichtet mir, dass noch am ersten Tage des Angriffes auf die Ukraine tausende Posener in ihre Autos gestiegen und in den grenznahen Bereich der Ukraine oder sogar in die Ukraine gefahren sind, um Geflüchtete schnell über die Grenze nach Polen in Sicherheit zu bringen. Noch am selben Tag wurde die Messehalle in Posen zu einer Sammelstelle für Sachspenden und Anlaufstelle für Geflüchtete umfunktioniert. Tomasz hat selbst Freunde in der Ukraine, so wie viele Polen aufgrund der engen Verbundenheit beider Länder. Seit drei Tagen habe er von einem Freund, der nahe Kiew wohnt, nichts mehr gehört. Mir bleibt der Atem stehen.  

Während ich die zahlreichen Geflüchteten in der Kleiderecke sehe, frage ich Tomasz, wo diese denn übernachten. Eine große Mehrheit von Polen habe Geflüchtete bei sich zu Hause aufgenommen, Hotels haben Zimmer zur Verfügung gestellt und Turnhallen wurden in Schlafsäle umfunktioniert. Doch die Kapazitäten sind inzwischen nach zwei Wochen schon erschöpft, ergänzt er weiter. Tomasz bricht in Tränen aus, weil die Geflüchteten, die wir in dem Moment sehen, aktuell kein Dach über dem Kopf haben. Meine Tränendrüse war zu diesem Zeitpunkt schon ausgereizt und erschöpft. Das Schicksal der Menschen ist herzzerreißend. Es sind Menschen wie du und ich. Menschen, die zur Schule oder zur Universität gehen. Menschen, die einen Job haben. Menschen, die sich ein eigenes Heim aufgebaut haben. Diese Menschen fliehen nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Sie fliehen, weil sie Angst um ihr Leben haben. „Er (Putin) wird dafür bezahlen“, wiederholt Tomasz öfter im Laufe unserer Unterhaltung.

Die Erlebnisse in Polen haben mir vor Augen geführt, dass Freiheit und Frieden nicht selbstverständlich und ewig sind. Sie müssen ständig verteidigt werden! Für mich als jemand, der viele Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg und Jahre nach dem Fall der Mauer geboren wurde, ist das ein ganz neues Gefühl. Doch ich bin stolz auf die Solidarität unserer niedersächsischen Leichtathletikgemeinschaft, in diesen besonderen Zeiten mit einer unglaublichen Menge an Sachspenden unsere Solidarität zu bekunden und aktiv zu helfen. Ich möchte mich von Herzen bei jedem einzelnen Spender bedanken!

Eins ist klar – diesen Tag werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Allein wenn ich an das Erlebte und die Menschen vor Ort zurückdenke, bekomme ich Gänsehaut. Es wird in der nächsten Zeit noch einiges auf uns zukommen!


Saskia Peuke

Nach allem, was die letzten Wochen in den Nachrichten zu lesen und zu sehen war, war es irgendwie ein seltsames Gefühl nun im Auto zu sitzen und in Richtung Osten zu fahren. Posen liegt im westlichen Teil Polens, also verhältnismäßig weit weg von der ukrainischen Grenze. Dennoch war (sobald wir östlich von Berlin waren und in Richtung polnischer Grenze gefahren sind) spürbar, dass wir uns dem Land nähern, aus dem diese ganzen Nachrichten kommen. Auf der Autobahn kamen uns unzählige Autos mit ukrainischem Kennzeichen entgegen. Einige davon waren voll bepackt und ich habe versucht mir vorzustellen, was in den Köpfen der Menschen in diesen Autos gerade vorgeht. Ich glaube, dass mir das nicht ansatzweise gelungen ist. Umso schöner war es auf der Fahrt immer wieder kleine Busse zu sehen, die in die gleiche Richtung fuhren wie wir. Sie waren genauso vollgeladen mit Kartons und hatten spanische, niederländische oder deutsche Kennzeichen. Auch Sie wollten ihre gesammelten Spenden nach Polen bringen.

Als wir die Sammelstelle in Polen erreicht hatten, war ich sprachlos und das blieb auch erstmal so. Ich hatte eigentlich ein großes Chaos und entkräftete Helfende erwartet. Was uns erwartete war allerdings das komplette Gegenteil. Sofort kamen zahlreiche Helfer in gelben Westen zu uns und erklärten kurz ihre Abläufe. Rasend schnell war der vollbepackte Bus ausgeräumt und die Kartons wurden in einer großen Messehalle sortiert. Die Atmosphäre in dieser Halle war ziemlich unglaublich. Zu sehen mit was für einer Hingabe und Energie hier gearbeitet wurde, hat mich extrem beeindruckt. Wir kamen mit einem der Helfer ins Gespräch und hörten Geschichten, die mir jetzt noch eine Gänsehaut bereiten. Als die ersten Nachrichten vom Angriff auf die Ukraine publik wurden, setzten sich viele Bewohner*innen in ihre Autos, fuhren an die ukrainische Grenze und holten die ersten Flüchtenden ab. Generell hat sich die Stadt Posen unglaublich solidarisch gezeigt. Hotels, Schulen und Privatpersonen nehmen Menschen auf und sorgen dafür, dass die meisten ein Dach über dem Kopf haben. Trotzdem reicht es nicht für alle. Am Seiteneingang der Halle ist ein kleiner Empfang für die Menschen aus der Ukraine aufgebaut. Von hier aus wird die Verteilung der Sachspenden an die Ukrainer*innen koordiniert. Die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. Sie sehen alle müde und kraftlos aus. Der Helfer berichtet uns, dass von diesen Menschen nicht alle eine Unterbringung haben. Er fängt an zu weinen. In dieser Halle so viel Leid aber eben auch Hingabe, Solidarität und Menschlichkeit zu sehen ist überwältigend. Jan und ich reden eigentlich kaum in diesen knapp 30min.


Auf dem Rückweg musste ich viel daran denken, was für ein unglaubliches Privileg es ist, nach Hause fahren zu können. Überhaupt ein Zuhause zu haben. „Zuhause sein“ kann ja vieles bedeuten. Für einige bedeutet es bei der Familie oder Freunden zu sein. Andere denken an einen bestimmten Ort. Diese Menschen, denen wir in Polen begegnet sind und die uns auf der Hinfahrt entgegengekommen sind,  haben zum Teil alles davon zurückgelassen. Ob sie jemals wieder nach Hause kommen wissen sie nicht. Am Ende ist es ziemlich schwierig die ganzen Eindrücke in ein paar Worten wiederzugeben. Vor allem aber bin ich überwältigt gewesen von der bedingungslosen Hilfe und Solidarität der Menschen in Posen und traurig über das Leid, das der ukrainischen Bevölkerung widerfahren ist. Unsere Freiheit und die Möglichkeiten, die wir in unserem Leben haben sind keine Selbstverständlichkeit. Dieser Tag und die damit verbundenen Gedanken werden so schnell nicht verschwinden.

 

Foto: NLV

 


"Die Situation macht sprachlos"