Ein Leichtathletik-Lebenswerk: Verdienstmedaille für Anton Siemer
  08.09.2023 •     NLV News , Verband


Trainer der LG Osnabrück engagiert sich seit 47 Jahren

Quelle: Neue Osnabrücker Zeitung / Benjamin Kraus

Als Kind übte er Hochsprung im Hof des Elternhauses - mit Landung im Heuhaufen. Schon als 18-Jähriger lebte er Leichtathletik-Leidenschaft auch als Trainer, führte Talente zu Medaillen bei großen Events und prägte den Lebenslauf vieler junger Menschen positiv mit Werten des Sports wie Beharrlichkeit und Teamgeist. Für 47 Jahre herausragendes Engagement als Coach erhielt Anton Siemer nun die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland.

„Der Sport ist ein herausragendes Bindeglied zwischen Generationen, Kulturkreisen und gesellschaftlichen Schichten, er kann aus vermeintlichen Verlieren selbstbewusste Gewinner machen. Ihren unermüdlichen Einsatz dafür seit fast 50 Jahren - im Spitzensport, vor allem an der Basis - würdigen wir“, sagte Katharina Pötter. Im Namen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier überreichte die Osnabrücker Oberbürgermeisterin dem 65-Jährigen die Auszeichnung bei einer Feierstunde im Friedenssaal des Osnabrücker Rathauses.

„Es geht darum, Jugendliche positiv anzusprechen, sie ernst zu nehmen, sie zu motivieren. So hat es vor über 50 Jahren Heinrich Gerdes bei mir gemacht. Im Prinzip mache ich heute nichts anderes“, sagte Siemer - mit Blick auf seinen extra angereisten eigenen ersten Trainer beim TuS Aschendorf. Siemer stammt aus der Nähe von Papenburg im Emsland, wächst ländlich auf mit sechs Geschwistern - und findet im Schlepptau seiner älteren Brüder und seines Vaters, der den Verein SuS Lehe einst mitgegründet hatte, zunächst als Fußballer den Weg auf den Sportplatz.

Autodidaktisches Kugelstoß-Training mit dem Backstein

Die Leichtathletik kommt dank Gerdes dazu, als Heranwachsender übt er beide Sportarten parallel aus. Siemer ist ehrgeizig, will vorankommen. „Kugelstoßen habe ich daheim mit einem Backstein geübt und mich in einem halben Jahr von sieben auf 12 Meter verbessert. Da habe ich gemerkt, dass Training was bringt“, erinnert er sich. Später spezialisiert er sich auf Mittelstrecken, er hält noch heute die drittbeste je gelaufene Wettkampfzeit der von ihm im Jahr 1980 mitgegründeten LG Emstal über 400 Meter und die zweitbeste über 800 Meter. Seine aktive Karriere muss er verletzungsbedingt recht früh beenden. Da ist er aber längst als Trainer aktiv: Schon 1976 hatte er bei Blau-Weiß Dörpen seine erste Gruppe übernommen.

Der neue Job führt Siemer 1985 nach dem Studium nach Osnabrück - und vor allem das Traineramt der LG Osnabrück, dem Zusammenschluss der Leichtathletik-Abteilungen der beiden größten Klubs der Stadt, dem Osnabrücker SC und der TSG Burg Gretesch. „Ich bin der Sparkasse als Arbeitgeber sehr dankbar: Sie hat es mir stets erlaubt, das nebenbei zu machen“, sagte Siemer bei der Feierstunde - und dass dieser Satzbau unbewusst nicht sofort klarstellte, welches Engagement genau nebenbei lief, kommt der Wahrheit zumindest in gewissen Zeiten wohl recht nahe.

Siemer belebte die brach liegenden Schüler-Alterklassen der LG durch Kooperationen mit Schulen, die - immer weiter ausgebaut - bis heute bestehen. Er holte Deutsche Meisterschaften an die Illoshöhe, war Antreiber bei der auch von der TSG mitfinanzierten Renovierung der Kunststofflaufbahn im Sportpark. Und er setzte mit dem internationalen Sportfest „Gretesch live“ Anfang des Jahrtausends mit Stars wie Speerwerferin Steffi Nerius einen bis heute in der Osnabrücker Leichtathletik nie mehr erreichten Standard.

Zugleich wuchsen die Erfolge seiner Athleten in immer neue Dimensionen: 2006 holte Patrick Jochmann als Dritter über 100 Meter (U18) die erste Sprint-Einzelmedaille für die LG bei einer Deutschen Meisterschaft. Später errang Fabian Dammermann die ersten Einzeltitel über 400 Meter (U20/2016, U23/2018), dazu Platz drei bei der Männer-DM in Nürnberg: Die erste Zeit unter 46 Sekunden buchte das Ticket für die Staffel bei der stimmungsvollen Heim-EM in Berlin mit dem Finaleinzug vor 60000 Fans im Olympiastadion - mit Heimtrainer Siemer auf der Tribüne. „Das vergisst man nicht - ein unglaubliches Erlebnis“, sagt Siemer und ergänzt: „Zu sehen, wie diese jungen Menschen sich entwickeln: Nicht nur sportlich, vor allem persönlich. Das macht mir am meisten Freude.“

Siemers Blick auch über den Sport hinaus

Damit meint er keinesfalls nur Top-Athleten: Jüngst erklärte ihm die Mutter eines Starters mit Blick auf die Laufbahn, dass könne niemals ihr Sohn sein, der da so fix rennt - angesichts früherer Koordinationsschwächen als Folge einer Sichtfeld-Beeinträchtigung aus der Kindheit sei das gar nicht möglich. Siemer verschiebt sportlich Grenzen, behält aber aus Überzeugung einen wachen Blick auf die schulische und berufliche Laufbahn seiner Athleten: Kurz kursierende Gedanken des nächsten Top-Langstreckensprinters Florian Kroll, eventuell die Tischlerlehre abzubrechen, wurden im Austausch schnell ad acta gelegt.

„Ich suche Talente, schicke aber nie jemanden weg, der mit uns trainieren will. Jeder kann sich entwickeln - man weiß nie, was aus den Jungs wird“, sagt Siemer. Was er im Gegenzug von seinen Schützlingen verlangt: Verbindlichkeit bei der Trainingsteilnahme, dazu von langjährigen Mitgliedern Unterstützung beim Coaching der Jüngeren. All das trägt bei zum speziellen TSG-Spirit. Wer ihn erleben will, sollte vorbeischauen bei Siemers Training auf der TSG-Anlage: Montag bis Freitag ab 16.30 Uhr, samstags ab 11 Uhr.

Siemer als Psychologe

„Sport hat auch ganz viel mit Psyche zu tun“, weiß der Trainer, der auch abseits der Einheiten da ist für seine Schützlinge: Für Steffen Riestenpatt etwa, dem im Trainingslager in der Schweiz nach dem Wechsel zu einem anderen Klub jegliche Zuversicht abhanden gekommen war. In einer schlaflosen Nacht rief er um Mitternacht Siemer in Osnabrück an - sein Ex-Coach hob ab und baute den Athleten 90 Minuten lang auf, was Riestenpatt in bemerkenswert offenen Worten voller Dankbarkeit bei der Feierstunde schilderte.

Kleine Begebenheiten, die große Wirkung entfalten können. Die Stärken des Osnabrücker LG-Biotopes sind - vielleicht genau jene, die dem Dachverband in Deutschland momentan abgehen. Siemer kann berichten von sprunghaften Nominierungsverfahren und ungeklärten Zuständigkeiten im DLV. „Wir haben hier bessere Bedingungen als viele Stützpunkte“, sagt er nicht ohne Stolz - auch mit Blick auf seine Kontakte zu Psychologen, Physiotherapeuten und Ärzten, die jüngst Kroll nach einem Muskelfaserriss im Zusammenwirken in kurzer Zeit so wiederherstellten, dass er ein Top-Ergebnis bei der U20-EM in Jerusalem erzielen konnte.

Biotop Osnabrück schlägt Stützpunkte

Siemer hat alles im Blick und in langwieriger Kleinarbeit aufgebaut. Nicht nur in seinen Trainingsmethoden beweist er einen langen Atem: Seine Langstreckensprinter gehören im Gegensatz zu den meisten Konkurrenten zur - bei Staffeln sehr begehrten - Gruppe, die nach 300 Sprintmetern nicht abbauen, sondern das Tempo noch anziehen können. Die Auszeichnung für sein Lebenswerk ist für ihn kein Abschluss, sondern neuer Ansporn.

Seine Dankesrede bei der Feierstunde beendete er so: „Dass ich all das habe und im nächsten Jahrzehnt weiter machen darf - darauf freue ich mich jetzt schon.“ Auch aktuelle und kommende Leichtathleten der Region dürfen sich freuen - wie alle, die ein Gefühl dafür haben, was Werte des Sports auch weiterhin bewegen können, wenn sie gelebt werden.